John Winn stand auf dem B-Deck des Ozenariesen Titanic, nahe der Brücke. Ja, auf der Titanic, dem größten Schiff der Welt, 50 cm länger als ihr Schwesterschiff die Olympic. Auf dem Schiff, von dem alle Zeitungen schwärmten, das unsinkbare Schiff! Das größte bewegliche Produkt welches die Menschheit je gebaut hat, in ihrer jahrtausende langen Geschichte. Obwohl es John nicht sonderlich interessierte auf welchem Kahn er Europa entkam und in die USA reiste, das gelobte Land wie es hieß. John Winn, genannt Winny, war ein arbeitsuchender Lehrer aus einem Vorort von London. Vielleicht würde er ja in den USA Glück haben, und endlich Arbeit finden. John griff in seine Westentasche und holte eine Bierflasche heraus. Er nahm einen Schluck und steckte sie wieder weg. Sie war sozusagen sein Markenzeichen. Es war eine kühle, mondlose Nacht, dieser 14. April 1912. John schlenderte über das B-Deck, direkt unter dem Promenadendeck. Er hatte sich hierhin geschlichen, weil er nicht wusste, ob er auch Zutritt hatte. Die „Bonzen“ wie er sie nannte, also die oberen 10.000, die mehr Geld allein in ihrer linken Jackentasche hatten als sie ausgeben konnten, hatten sich in ihre Suites zurückgezogen. Er war so ziemlich der einzige, der noch draußen auf war. Bald würden sie New York erreichen, dann wäre er endlich in den USA. John hatte bereits fast den Bug erreicht, als sich etwas großes, schwarzes vor ihm auftat. Er schlenderte weiter. Was auch immer es war, es interessierte ihn nicht sonderlich. Er kramte erneut in seiner Westentasche, und suchte eine Zigarette. Er drehte sich um und sah, wie dieser schwarze Fleck immer weiter auf sie zukam! Er steckte die Zigarette in den Mund, kam jedoch nicht mehr dazu sie anzuzünden. Die Titanic näherte sich immer mehr dem...Eisberg! Jetzt erkannte auch John ihn, er musste mindestens 15 Meter hoch sein. „Wer steuert dieses Schiff?“ murmelte er. „Langsam wäre es echt Zeit, mal abzudrehen, meint ihr nicht auch?“ sprach er zu sich selbst, und biss die Zähne zusammen. „He! Langsam wird es echt Zeit! Wer auch immer dieses Schiff steuert, er muss ein Idiot sein.“ Er witzelte weiter, und der Eisberg war nun auch ihm zu nah, und sein Mund stand weit offen. Die Zigarette fiel zu Boden. „Oh Scheiße!“ rief er, und ging einige Schritte nach hinten. Die Titanic drehte zwar ab, doch es reichte nicht. Der Boden unter seinen Füßen begann ganz leicht zu zittern, und kleine Eisbrocken fielen mit lautem Getöse auf das Deck unter ihm, das C-Deck. „Oh mein Gott!“ sagte er zu sich selbst, und hoffte, dass ihn niemand hörte. Der Eisberg verschwand. John blieb noch einige Sekunden wie angewurzelt stehen, dann drehte er sich langsam um. Dieses Schiff war unsinkbar, was sollte also noch passieren? Sollte die Titanic jetzt etwa untergehen? So ein bisschen Eis. Er sprach sich selber Mut zu. Aber vielleicht wäre es doch besser, sich zu den Rettungsbooten zu begeben. Doch seine Neugier siegte, und er ging wieder vorwärts. Vielleicht sah man ja noch etwas von dem Schaden. Er beugte sich über die Reling und schaute hinunter, fast 20 Meter über dem Meer. Außer einigen Kratzern und verschrammten Bullaugen war nichts zu erkennen. Er schaute noch etwa 10 Minuten hinunter, dann ging er fort. Auf dem C-Deck hatten sich bereits einige 3. und 2. Klasse Passagiere versammelt, einige Männer spielten Fußball mit dem Eis. Schwachköpfe! dachte John. Haben mit ihrem Leben nichts besseres zu tun, als Fußball zu spielen! Er war ein Mann Mitte 30, und würde jetzt lieber ein Buch lesen oder der Sache auf den Grund gehen. Auch wenn keinerlei Gefahr bestand, diese Sache begann ihn wirklich zu interessieren. Er war warm angezogen, also konnte er auch noch ein wenig nachforschen! John ging nur wenige Schritte, dann hatte er die Treppe zur 1. Klasse erreicht, zum A-Deck. Only first class passagiers! Stand auf einem weißen Schild. John schaute sich um und stieg hinüber. Doch nach wenigen Minuten musste er feststellen, dass es hier auf dem A-Deck auch nicht viel mehr zu sehen gab. Kaum ein „Bonzen“ hatte sich nach draußen getraut, es könnten ja die teuren Fingernägel abfrieren, immerhin war es ja kalt. Inzwischen waren ungefähr 20 Minuten vergangen, es war Mitternacht. John blieb noch einige Minuten stehen. Nichts passierte, also dürfte auch nichts passiert sein. Ein Mann, anscheinend auch aus der 2. Klasse, trat neben ihm. Er war klein und schlank, und hatte eine abgemagerte Figur. Sein deutscher Akzent war unüberhörbar. „Hallo, mein Name ist August Meyer, wissen sie zufällig was hier vorgefallen ist?“ Er schüttelte die Hand des Deutschen. „John Winn.“ Dann deutete er mit seinem Arm nach links. „Ja, ich war dabei als es passiert ist. Ein Eisberg hat das Schiff gestreift, aber wir werden sicherlich in ein paar Stunden weiterfahren, bei White Star geht doch alles über die Sicherheit der Passagiere.“ August lächelte gezwungen.“Ja, so wird es wohl sein. Schönen Abend noch.“ sagte August, und hob seinen Hut den er in der rechten Hand hielt. „Ihnen auch“ entgegnete John, dann trennten sich die beiden. Es war nun 0:05 Uhr, und ein Steward kam zu ihm, nur eine Minute nachdem August Meyer gegangen war. „Sir, ich muss sie bitten die Rettungsweste anzulegen.“ sagte der Steward, und hielt ihm eine Rettungsweste hin. John lehnte ab. „Hören sie: Bis zu meinem 16 Lebensjahr hat meine Mutter auf mich aufgepasst, und sind sie nicht auch der Meinung, dass ich nun langsam alt genug dazu bin, auf mich selbst acht zu geben?“ Seine Worte waren voller Sarkasmus, den der Steward anscheinend nicht bemerkt oder überhört hatte. „Sir, ich muss sie nochmals bitten die Rettungsweste anzulegen.“ „Ist ja gut, geben sie her!“ entgegnete John äußerst gereizt und riss dem Steward die Rettungsweste aus der Hand. Der Steward hastete bereits zu dem nächsten Passagier. Nun waren bereits viele 1. und 2. Klasse Passagiere an Deck gekommen, fast alle mit einer Rettungsweste. John hingegen war einer der wenigen, der sie nur mit sich trug, aber nicht anlegte. Er ging zur Reling und schaute aufs Meer. Plötzlich wurde er von der Seite angestupst. „Sie werden auch nicht besser schwimmen können, wenn sie die Rettungsrette in der Hand halten.“ Er wandte sich um und schaute in das lächelnde Gesicht von August Meyer. „Ich halte nicht viel von den Dingern.“ sagte er nur knapp. „Nunja, aber sicherer wäre es wirklich“ sagte August ein wenig bestimmter. John setzte gerade zu denselben Worten an, die er bereits dem Steward gesagt hatte, dann sah er aber, dass der Deutsche selbst keine Rettungsweste trug. „Man sollte immer mit gutem Beispiel vorran gehen, oder etwa nicht?“ spottete John. August machte eine Miene, die offensichtlich verriet, dass es ihm peinlich war. „Na gut, warten sie, ich hole mir eine!“ Mit diesen Worten ging August wieder und suchte einen Steward auf. John lehnte sich wieder an die Reling. Vielleicht war es doch sicherer, die Rettungsweste anzulegen, zumal bereits einige Besatzungsmitglieder die Rettungsboote klar machten, und sich Menschentrauben um die Boote bildeten. Er legte die Weste mit der Nummer 48 an und ging zu dem nächstbesten Rettungsboot, um zu hören, was der Offizier dort sagte.